Die Sisters sind ein ungleiches Brüderpaar, das gemeinsam den Wilden Westen unsicher macht; Charlie (Joaquin Phoenix) ist ein Heisssporn und Trunkenbold, der nicht ans Morgen denkt, Eli (John C. Reilly) ein in sich gekehrter Melancholiker, der davon träumt, Ladenbesitzer zu werden, eine Lehrerin zu ehelichen und mit ihr eine Familie zu gründen. Die beiden Brüder sind Auftragskiller und arbeiten für den Commodore, eine finstere Figur im Hintergrund, die das Publikum nie zu Gesicht kriegt und deren Umrisse nur kurz im Fenster sichtbar werden.
Jacques Audiards erster englischsprachiger Film The Sisters Brothers wirkt in mancher Hinsicht wie das Gegenstück zu Un prophète, dem Film, mit dem der Regisseur 2009 unter anderem den Grossen Preis der Jury am Filmfestival von Cannes gewann. In dessen Zentrum stand ein Kleinkrimineller, der im Mikrokosmos eines Gefängnisses zum Mafiaboss aufstieg. Erzählte Un prophète von der Geburt eines gewissenlosen Gangsters, stellt The Sisters Brothers, für den Audiard in Cannes erneut ausgezeichnet wurde, die Gegenfrage: Was folgt auf ein Leben als Verbrecher? Gibt es einen Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt?
Das Ende des Westernhelden
Im Grunde haben wir diese Geschichte schon oft gesehen. Wir wissen von Anfang an, dass es Eli zusehends schwerer fallen wird, seinen ungestümen Bruder im Zaum zu halten, und dass sein Traum von einem anderen Leben aussichtslos sein dürfte. Die Figur des Desperados, dessen Zeit abgelaufen ist, dem es für einen Moment vielleicht sogar gelingt, sein sündhaftes Leben hinter sich zu lassen, und der am Ende dennoch scheitert, scheitern muss, ist im Kino oft anzutreffen. Im Spätwestern – und letztlich sind alle nach Sergio Leones Once upon a Time in the West gedrehten Vertreter des Genres Spätwestern – begegnet man ihr besonders häufig. Hier, im ältesten aller Filmgenres, muss es noch nicht einmal der Gangster sein, der abtritt. Vielmehr ist es der Cowboy selbst, der in der modernen Welt nicht mehr gefragt ist.
Der raubeinige, wettergegerbte Kerl, der mit seinem Sechsschüsser für Ordnung sorgt und eisern an einem überkommenen Ehrenkodex festhält, kann nur an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis bestehen. Hat der Fortschritt einmal Einzug gehalten, muss der loner in die Weiten der Prärie entschwinden. Und wenn der Westen erst einmal ganz erschlossen ist, bleibt nichts mehr anderes übrig, als in einem letzten grossen Aufbäumen das Zeitliche zu segnen. Ein Muster, das bei Leone ebenso zu finden ist wie in den späten Filmen John Fords, bei Sam Peckinpah oder in Clint Eastwoods Unforgiven.
Auch in The Sisters Brothers macht sich der Fortschritt überall bemerkbar. So entdeckt Eli in einem Kramladen eine Zahnbürste und lässt sich insbesondere vom Versprechen überzeugen, dass diese zuverlässig Mundgeruch beseitigen soll. In der Folge sehen wir, wie er sorgfältig die Gebrauchsanweisung studiert und fortan jeden Morgen brav die Zähne putzt. Und als die Brüder den äussersten Westen erreichen, finden sie dort nicht etwa das letzte Stück Wildnis, sondern die Grossstadt San Francisco, deren Hotels mit Wasserklosetts aufwarten. Wenn Cowboys beginnen, auf körperliche Hygiene zu achten, ist das Ende nah.
Eine Western-Utopie
Der Spielraum wird also immer kleiner für Eli und Charlie, doch wie es die Genrekonvention will, leuchtet am Horizont auch die Hoffnung auf einen Ausweg auf. Anders als in den meisten anderen Western liegt die Verheissung für einmal aber weder in der Eingliederung in das bürgerliche Leben noch in der erlösenden Macht der Liebe. Denn der Mann, den Eli und Charlie im Auftrag des Commodore umlegen sollen, ein feingliedriger und einfühlsamer Chemiker namens Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed), hat nicht nur ein Mittel entdeckt, das die Goldsuche vereinfacht, er steht für das Versprechen auf ein besseres Leben. Mit dem Vermögen, das ihm die Goldsuche einbringt, will er in Dallas ein phalanstère gründen, eine jener utopischen Siedlungen, die der Franzose Charles Fourier, ein Sozialist und Befürworter der freien Liebe, in seinen Schriften propagierte.
Eine Utopie aus dem französischen Frühsozialismus als Gegenentwurf zur gnadenlosen Welt des Wilden Westens: Das ist ungewohnt, aber historisch sehr wohl stimmig. Die Vereinigten Staaten waren im 18. und 19. Jahrhundert ein fruchtbarer Boden für utopische Kommunen aller Art – von christlichen Sekten wie den Amischen und den Shakers über die Gefolgsleute des britischen Frühsozialisten Robert Owen bis eben zu den Anhängern Fouriers; 1855 wurde bei Dallas tatsächlich eine von Fourier inspirierte Siedlung namens La Réunion gegründet, die allerdings nur kurz Bestand hatte.
Eine neue Zeit steht an, doch welche? Der Chemiker Warm will sich nicht mit der Grausamkeit und dem Chaos zufriedengeben, die ihn umgeben. Besser kann es nur werden, wenn endlich Gleichheit unter den Menschen herrscht. John Morris (Jake Gyllenhaal), der ursprünglich vom Commodore losgeschickt wurde, um Warm aufzuspüren, lässt sich als Erster von dessen Vision überzeugen und wechselt die Fronten. Zwischen den beiden Männern entsteht bald eine grosse Nähe, doch der Film lässt alles in der Schwebe. Die delikate, leicht effeminierte Erscheinung Ahmeds und die Erinnerung an Gyllenhaals Rolle als schwuler Cowboy in Brokeback Mountain suggerieren eine Liebesbeziehung, doch ausbuchstabiert wird sie nicht.
Sensible Cowboys
Ansonsten wird viel geschrieben und gelesen in diesem Film, und die Figuren bedienen sich eines erstaunlich gewählten Vokabulars. Überhaupt zeigen Eli und Charlie ein ungewohntes Bewusstsein für sprachliche Feinheiten, machen sich über seltsame Formulierungen anderer Figuren lustig und diskutieren abends beim Lagerfeuer, ob es angebracht ist, im Zusammenhang mit dem Commodore das Verb to victimize zu benutzen. Die beiden Brüder sind, auch wenn ihnen das nicht bewusst ist, sehr moderne, ja postmoderne Figuren, die ihr Verhalten reflektieren und denen beispielsweise klar ist, dass nicht zuletzt die Brutalität ihres Vaters sie zu dem gemacht hat, was sie sind. Selbst der impulsive Charlie kann sich selber richtig einschätzen, und wenn er sich über den Traum seines Bruders von einem Leben als Krämer und Familienvater lustig macht, dann vor allem deshalb, weil er weiss, dass ihm dieser Weg verschlossen ist. Dass es für ihn keine Alternative zur Verbrecherlaufbahn geben kann.
Obwohl Audiard mit Stilbrüchen arbeitet, Genre-Stereotype gegen den Strich bürstet und die obligaten majestätischen Landschaften mit einem ganz und gar untypischen, stellenweise fast avantgardistischen Soundtrack von Oscarpreisträger Alexandre Desplat unterlegt, geht es ihm nicht darum, den Western durch den Kakao zu ziehen. Sein Film hat witzige Momente, wird aber nie zur reinen Parodie, sondern bewegt sich irgendwo zwischen leisem Humor, elegischer Trauer und blutigem Realismus. Eine ungewohnte Tonlage, was vielleicht auch erklären mag, warum der Film in den USA an der Kinokasse gefloppt ist.
Wer ist am Ende stärker – die Gesetze des Genres oder Eli und Charlie mit ihrer ungewöhnlichen Gabe zur seelischen Introspektion? Auch wenn schliesslich die Genre-Regeln den Sieg davontragen, endet der Film nicht ganz so klassisch, wie man es vielleicht erwarten würde. Der grosse Showdown mit dem Commodore, der sich lange anbahnt und in einem anderen Film in eine aufwendig choreografierte Gewaltorgie münden würde, wird unvermittelt abgewürgt.
Dass Warms Vorhaben dennoch kein Erfolg beschert ist, dass die Brüder sich nicht in einer utopischen Kommune niederlassen, um dort ein Leben im Zeichen der Gleichheit und der Liebe zu führen, dürfte niemanden überraschen. Wie und warum die Utopie dann tatsächlich scheitert und wer am Ende mit mehr oder weniger heiler Haut übrig bleibt, kommt allerdings recht unerwartet. Ebenso der Ort, an dem die müden Brüder schliesslich doch noch zur Ruhe kommen. Am Ende schrumpft die Vision einer besseren Welt auf den kleinstmöglichen Kreis zusammen. Doch zumindest für einen kurzen Augenblick scheint ein anderes Leben möglich.
Erschienen in der Republik vom 22. März 2019.
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