Wahrscheinlich haben nur wenige Regisseure das Vokabular, mit dem wir über Filme sprechen, so sehr geprägt wie Alfred Hitchcock. Insbesondere durch das Interview mit François Truffaut, dem Klassiker der Filmpublizistik schlechthin, hat der «Master of Suspense» Generationen von Cinephilen beeinflusst.
In diesem Ehrentitel taucht bereits einer der zentralen Hitchcock’schen Begriffe auf. Suspense ist bei Hitchcock mehr als blosse Spannung, vielmehr beschreibt er eine ganz bestimmte dramaturgische Konstellation: Wenn das Publikum mehr weiss als der Protagonist und deshalb antizipiert, was kommen könnte. Im Gespräch mit seinem Regiekollegen unterscheidet Hitchcock Suspense von Überraschung und führt zur Illustration ein seither oft zitiertes Beispiel an: Zwei Menschen führen ein harmloses Gespräch, wissen aber nicht, dass unter ihrem Tisch eine Bombe platziert wurde, die in einer Viertelstunde explodieren wird. Wenn der Zuschauer gleich viel weiss wie die Protagonisten, ist die Explosion für alle – Publikum wie Figuren – gleichermassen überraschend. Solche Schockmomente können durchaus wirkungsvoll sein, weit interessanter wird es in den Augen Hitchcocks aber, wenn der Zuschauer zu Beginn sieht, wie die Bombe gelegt wird. Nun weiss er um die Gefahr und fiebert mit der Handlung mit. Das zuvor noch banale Gespräch wird auf einmal aufregend, jede Handbewegung bedeutsam, da sie zur Entdeckung der Bombe führen könnte. Im einen Fall ist das Ergebnis fünfzehn Minuten Langeweile und zwei Sekunden Überraschung, im anderen eine Viertelstunde Hochspannung.
Die Lehre, die Hitchcock daraus zieht, ist aufschlussreich: Da Minuten voller Suspense einem kurzen Augenblick der Überraschung stets vorzuziehen sind, sollte das Publikum, wann immer möglich, informiert werden. Hier wird ein Verständnis von Kino sichtbar, das die unmittelbare Erfahrung des Moments höher einschätzt als den grossen erzählerischen Zusammenhang. Denn letztlich ist es im angeführten Beispiel egal, ob die Bombe am Ende hochgeht oder rechtzeitig entschärft wird; an der Spannung unterwegs ändert das wenig. Weil ihr Ausgang im Grunde das Uninteressanteste an dieser Szene ist, gibt es hier auch nichts zu spoilern.
Wie Hitchcock immer wieder betont, interessiert ihn die Manipulation der Gefühle der Zuschauer weit mehr als erzählerische Geschlossenheit oder Plausibilität. Bestes Beispiel hierfür ist North by Northwest – eine Aneinanderreihung glänzender filmischer Miniaturen mit ziemlich hanebüchener Handlung. So gibt es wahrscheinlich kaum eine aufwendigere und ineffizientere Art, jemanden zu töten, als ihn auf freiem Feld mit einem Flugzeug zu attackieren. Naheliegender wäre ein simpler Hinterhalt mit einer Pistole. Hitchcock hatte für derartige Wahrscheinlichkeitskrämerei, wie er es nannte, wenig Verständnis. Und er hat recht behalten: Die Szene, in der Cary Grant vor dem Sprühflugzeug flüchtet, gehört zu den berühmtesten der Filmgeschichte.
Weil der Fokus bei Suspense auf dem Augenblick und nicht auf der Auflösung einer Szene liegt, ist er weitgehend spoilerresistent. Daraus folgt aber keineswegs, dass Hitchcock Spoilern gleichgültig gegenüberstand. Auf die Forderung, das Publikum stets zu informieren, folgt sogleich eine Einschränkung: Diese Regel gilt nicht, wenn die Überraschung einen Twist beinhaltet, wenn die unerwartete Wendung selbst der Höhepunkt des Plots ist.
Hitchcock war ebenso Meister des Twists wie des Suspense, er liebte es, das Publikum an der Nase herumzuführen und Erwartungen komplett zu unterlaufen. Am berühmtesten sind wohl die Twists von Psycho. Nach knapp der Hälfte des Films wird dessen vermeintliche Hauptfigur, die von Janet Leigh gespielte Marion Crane, kurzerhand niedergestochen. Und als sei das noch nicht genug, offenbart der Film am Ende, dass wir die ganze Zeit hindurch an der Nase herumgeführt wurden. Norman Bates und nicht etwa seine Mutter ist Marions Mörder.
Der zweite Twist ist mittlerweile so sehr zum Klischee geronnen, dass er eigentlich fast nur noch in parodistischer Weise eingesetzt werden kann. Bei Erscheinen des Films war er allerdings noch neu und Hitchcock entsprechend erpicht darauf, ihn zu bewahren. Der Trailer zu Psycho ist diesbezüglich ein kleines Meisterstück: Hitchcock selbst führt darin durch das Bates’sche Anwesen und erklärt, wo Morde stattfinden und Beweismittel vernichtet werden. Er scheint alle wichtigen Szenen vorwegzunehmen, lässt aber jeweils das Entscheidende aus.
Aus Angst, dass die Pointe des Films vorzeitig bekannt werden könnte, wurden den Darstellern jegliche Interviews untersagt. Selbst die sonst üblichen Vorabvorführungen für die Presse wurden gestrichen, und Kinobetreiber waren angehalten, nach Vorstellungsbeginn niemanden mehr in den Saal zu lassen. Ob diese Massnahmen tatsächlich alle der Vermeidung von Spoilern dienten oder ob Hitchcock hier ganz einfach cleveres Marketing betrieb, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Erschienen im Filmbulletin 8/2016.
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