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Neue Dimensionen für Tim und Struppi
The Adventures of Tintin von Steven Spielberg

Bei Spielberg sind alle dabei: Tim, Struppi …

Bei Spielberg sind alle dabei: Tim, Struppi …

… Kapitän Haddock …

… Kapitän Haddock …

… Schulze und Schultze …

… Schulze und Schultze …

… sowie Aristide Klemm-Halbseid.

… sowie Aristide Klemm-Halbseid.

Man muss es neidlos anerkennen: Wenn auch längst nicht alle Superheldenfilme sehenswert sind, hat Hollywood insgesamt doch ein glücklicheres Händchen bei Comicverfilmungen als die europäische Filmindustrie. Die Bemühungen der vergangen Jahre, Klassiker des frankobelgischen Comics wie Asterix oder Lucky Luke umzusetzen, brachten nur Werke zweifelhafter Qualität hervor. Insofern ist es nur folgerichtig, dass sich nun Steven Spielberg an der Figur versucht, von der de Gaulle einst meinte, sie sei sein einziger Rivale.

Die tückischste Hürde bei The Adventures of Tintin lauerte zweifellos auf ästhetischem Gebiet: Wie setzt man Hergés oft bewunderten Stil, die scheinbar so simple Ligne claire mit ihren präzisen Konturen und einfarbigen Flächen, adäquat um? Die selbstbewusste Antwort von Spielberg und seinem Team lautet: gar nicht. Der Auftakt des Films ist diesbezüglich programmatisch. Als erstes sehen wir den digitalen Hergé, der auf einem Flohmarkt Tim portraitiert. Einen kurzen Blick auf seine Gemälde gewährt uns der Film noch, dann ist Schluss mit den eindimensionalen Figuren. Für die nächsten 100 Minuten entwirft der Film seine ganz eigene 3D-Bilderwelt.

The Adventures of Tintin bedient sich des gleichen Verfahrens, mit dem schon der digitale Gollum in den Lord-of-the-Rings-Filmen von Peter Jackson – dieser fungiert auch als Produzent – und die Naʼvi in Avatar zum Leben erweckt wurden: Die Bewegungen realer Schauspieler wurden digital erfasst und dienten als Vorlage für die Animatoren. Das Ergebnis dieses aufwendigen Verfahrens ist beeindruckend. Sei es ein marokkanisches Küstenstädtchen oder die stürmische See – visuell ist der Film eine einzige Pracht. Und noch in anderer Hinsicht zeigt der Film Eigenständigkeit: Tim und Struppi wurden konsequent anglisiert und sind nun in London zu Hause.

Grundgerüst des Films bildet der Band Das Geheimnis der Einhorn angereichert mit Elementen aus Die Krabbe mit den goldenen Scheren. Dieser Zusammenzug war vor allem deshalb nötig, weil in Letzterem die Figur Kapitän Haddocks eingeführt wird. Dieser erschimpfte sich nicht nur schnell den Platz der wichtigsten Nebenfigur, sondern steht auch im Mittelpunkt der geheimnisvollen Machenschaften rund um das titelgebende Schiff Einhorn. Denn wie sich herausstellt, ist das Schiffsmodell, das Tim zu Beginn auf dem Flohmarkt ersteht, der Schlüssel zu einem Schatz, den ein Vorfahre Haddocks einst im Meer versenkt hat.

Spielberg wurde bereits 1981, nach der Premiere des ersten Indiana-Jones-Films, auf die Ähnlichkeit seines peitschenschwingenden Archäologen und dem jungen Reporters mit der kecken Haartolle aufmerksam gemacht. Die Comics begeisterten den Regisseur derart, dass er umgehend Hergé kontaktierte, der ebenfalls grosses Interesse an einer Realverfilmung bekundete. 30 Jahre später ist der Film nun endlich da, und die Parallelen zu Indiana Jones sind nicht zu übersehen, was nicht nur an der Musik von John Williams liegt. Dieser Tim ist äussert actionlastig und Szenen wie die furiose Jagd nach drei Pergamenten, bei der allerhand Dekor zu Bruch geht, könnten genauso gut aus Raiders of the Lost Ark stammen.

Obwohl der Film sein eigenes rasantes Tempo hat, ist der Respekt vor der Vorlage nicht zu übersehen. Spielberg und seine Drehbuchautoren kennen ihren Tim. Der Film strotz nur so vor Anspielungen, und alte Bekannte wie Schulze und Schultze oder Bianca Castafiore, die für einmal allerdings nicht die Juwelenarie, sondern ein anderes Gounod-Stück zum Besten gibt, haben ebenso einen Auftritt wie kleinste Nebenfiguren – etwa Tims Hauswartin Frau Specht, die im Comic bloss in einigen wenigen Panels zu sehen ist; einzig Professor Bienlein fehlt. Und für einmal seien hier auch die Untertitel lobend erwähnt, die der deutschen Übersetzung bis in so kleine Details wie dem wunderbar absurden Namen eines kleptomanischen Kleinbürgers – Aristide Klemm-Halbseid! – folgen.

Spielberg hat vieles richtig gemacht, dennoch wollen sich die verschiedenen Bestandteile nicht recht zu einem stimmungsvollen Ganzen fügen. Das ständige Schwanken zwischen grösster Treue und betonter Eigenständigkeit führt zu einem seltsam sterilen Film, so steril wie die Hauptfigur, die nie an Konturen gewinnt. Im Grunde bleibt Spielberg aber auch damit der Vorlage treu, denn Tim war schon bei Hergé nur eine Leerstelle.

Spielberg hat gleich drei Tim-und-Struppi-Filme geplant. Dass der erste nun mit einem Cliffhanger endet, ist allerdings ebenfalls dem Comic geschuldet. Denn dem Geheimnis der Einhorn folgt der Schatz Rackhams des Roten – und mit ihm auch Professor Bienlein.

Erschienen in der NeueN Zürcher Zeitung vom 27. Oktober 2011.

The Adventures of Tintin in der Internet Movie Database.

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