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Des Menschen Wolf
Le temps du loup von Michael Haneke

Eine Familie zieht in ihr Ferienhaus ein; eine ganz alltägliche Szene, in überdeutlicher Normalität präsentiert. Doch in dem Haus ist bereits jemand. Eine andere Familie, die bereit ist, ihre Unterkunft mit Waffengewalt zu verteidigen. Noch ist alles unklar. Wer sind die Fremden? Flüchtlinge? Was wollen sie? Der Vater versucht, auf den Mann mit dem Gewehr einzureden. Da fällt plötzlich, ganz nebenher und ausserhalb des Bildes, und deshalb umso überraschender ein Schuss. Der Vater ist sofort tot, die Familie muss das Haus verlassen.

Ein Auftakt, wie er typisch ist für den österreichischen Regisseur Michael Haneke. Da wird vorderhand ganz filmuntypisch verfahren, fehlt scheinbar jeder dramatische Aufbau, wird ganz auf Musik und grosse Emotionsausbrüche verzichtet. Der Mord ist nur im Gesicht der Mutter (Isabelle Huppert) zu sehen. Und doch ist das ein Auftakt wie ein Paukenschlag, sind wir schon nach wenigen Minuten unweigerlich in der Eiszeit-Welt Hanekes gefangen. Der Filmbeginn erinnert an Hanekes in jeder Beziehung gnadenloses Meisterwerk Funny Games. Wieder eine gutbürgerliche Familie, in deren Normalität eine Katastrophe hereinbricht. Doch der erste Eindruck ist trügerisch, die Welt von Le temps du loup ist alles andere als normal: Haneke entwirft in seinem jüngsten Film eine düstere Endzeitstimmung. Wir sind irgendwo in einer ländlichen Region Frankreichs, die von einer nicht näher definierten Katastrophe heimgesucht wurde. Die Versorgung ist zusammengebrochen, Strom und sauberes Trinkwasser sind ebenso zum wertvollen Gut geworden wie Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf. Anna muss sich mit ihren beiden Töchtern durch das entvölkerter Land schlagen, irgendwohin, wo es vielleicht besser ist. Nach einigem Umherirren kommt das Dreiergrüpchen schliesslich an einer Bahnstation an, wo andere Gestrandete auf den Zug warten. Denn der Zug wird kommen, davon sind alle überzeugt. Wann er kommen wird, weiss niemand. Aber dass er kommen und die Wartenden dann in eine bessere Welt bringen wird, steht ausser Frage.

Dass der Menschen des Menschen Wolf ist, ist keine neue Erkenntnis, und wenn ein Haneke-Film schon den Titel Wolfzeit trägt muss man das Schlimmste erwarten. Das Überraschende an Le Temps du loup ist denn auch, dass der Film – der äusserst düsteren Grundstimmung zum Trotz – fast hoffnungsvoll ist. Hanekes Gesellschaftsgemälde zeigen normalerweise gefühlskalte Menschen, die in anonymen Grossstädten vor sich hin vegetieren. Sich und den Mitmenschen entfremdete Gestalten ohne Hoffnungen und Träume. Das Zusammenbrechen aller gesellschaftlichen Ordnung scheint da geradezu eine heilende Wirkung zu haben. Natürlich ist auch die Welt von Le temps du loup gewalttätig, sind die Menschen hier bereit, für ihr eigenes Überleben über Leichen zu gehen, werden Frauen vergewaltigt und nutzen die wenigen, die über sauberes Wasser verfügen, ihre Situation schamlos aus. Immer mehr Leute pilgern in der Hoffnung auf Rettung zu dem Bahnhöfchen, doch das Anwachsen der Gruppe führt nicht zu einem umso grausameren Verdrängungskampf. Werte wie Mitleid und Solidarität sind noch nicht ganz ausgestorben.

Je mehr Leute zu der Gruppe stossen, umso mehr entfernt sich der Film von seinen drei Hauptfiguren. Anna, zu Beginn der Mittelpunkt des Films, ist im letzten Teil kaum noch zu sehen. Stattdessen konzentriert sich die Erzählung auf die Gruppendynamik. Die Gruppe organisiert sich, Führerfiguren versuchen, die Ordnung durchzusetzen; das Entstehen von Machtstrukturen erscheint fast wie ein zwangsläufiger natürlicher Prozess. Doch die Gesellschaftsordnung bleibt rudimentär und fehlerhaft: Eines Tages entdeckt Anna unter den Neuankömmlingen den Mörder ihres Mannes. Sofort fordert sie seine Bestrafung, doch der Angeschuldigte streitet alles ab, Aussage steht gegen Aussage. Vor einem der Anführer kommt es zu einer Art Verhandlung, die dieser schliesslich abbricht. Er könne nicht entscheiden, wer die Wahrheit sage, und ausserdem sei er ja gar kein Richter…

Haneke hat einen seltsamen Film vorgelegt, der sich nicht so recht einordnen lässt. Es fehlt die Geschlossenheit, das Bohrende seiner wirklich grossen Filme – was nicht heissen soll, dass einen Le temps du loup kalt lässt. Haneke zeigt sich einmal mehr als Meister der filmischen Tristesse, doch es scheint, als würde ihm das Grossstadtgemälde näher liegen als die Endzeitdystopie. Vieles, was in Le temps du loup zu sehen ist, hat man schon einmal gesehen, und mitunter fragt man sich auch, was das Ganze eigentlich soll.

Zum Schluss gönnt uns der Kulturpessimist sogar fast so etwas wie ein optimistisches Ende. Bei Haneke kommt Godot zum Ende doch noch. Der Zug fährt. Wir wissen nicht wohin und mit wem an Bord, aber er fährt. Durch eine ländliche Szenere, nach wie vor fehlt jede Musik, aber dafür scheint zum ersten Mal im ganzen Film die Sonne.

Le temps du loup in der Internet Movie Database

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