Dass die gemeine Spoilerphobie mittlerweile epidemisch geworden ist, hat unlängst der Filmverleih Walt Disney bewiesen, der in der Schweiz das jüngste James-Bond-Abenteuer Spectre verleiht. In der Einladung zur Pressevorführung wurden die Journalisten ausdrücklich dazu angehalten, in ihrer Berichterstattung auf Spoiler zu verzichten.
Diese Bitte ist ziemlich erstaunlich und rührt an die Frage, was eigentlich unter einem Spoiler zu verstehen ist. Gemeinhin bezeichnet man damit ja die Information über eine wesentliche Plot-Wendung, eine Überraschung, die der Handlung eine neue Richtung gibt. Etwa, dass Darth Vader Luke Skywalkers Vater ist oder dass Harry Potters Lehrer Albus Dumbledore sterben muss. Diese Dinge im Voraus zu verraten, kann einem Kinozuschauer oder einer Leserin schon mal den Spass verderben. Was aber gibt es bei James Bond zu spoilern? Wie Umberto Eco bereits in den fünfziger Jahren in einem mittlerweile klassischen Aufsatz geschrieben hat, zeichnen sich die Abenteuer des berühmtesten Agenten im Dienste Ihrer Majestät just durch ihre Gleichförmigkeit aus. Der Reiz von James Bond liegt gerade darin, dass wir wie beim klassischen Märchen immer wieder die gleichen Elemente vorgesetzt kriegen, deren Arrangement sich jeweils nur leicht verändert.
Nun haben sich die Kinoabenteuer von 007 seit Dr. No vor fünfzig Jahren zwar durchaus gewandelt, mit echten Überraschungen wartet Bond aber nach wie vor kaum auf. Wir wissen von Anfang an, dass Mr. Kiss Kiss Bang Bang am Ende den Bösewicht besiegen, die Welt retten und das Bond-Girl kriegen wird und dass der Weg dorthin mit exotischen Locations und extravaganten Actionszenen garniert sein wird. Die Filme mögen in einzelnen Szenen mit unerwarteten Gags aufwarten, Spannung im engeren Sinn, dass wir uns als Zuschauer fragen, wie das Abenteuer ausgehen könnte, ist den Filmen aber weitgehend fremd.
Die Ausbreitung der Spoilerphobie geht Hand in Hand mit der steigenden Beliebtheit von Erzählformen, die auf Twists, Rätsel und überraschende Wendungen setzen; etwa Fernsehserien wie Lost oder die Filme Christopher Nolans. Die Produzenten der Bond-Filme hatten noch nie Skrupel, sich hemmungslos bei anderen erfolgreichen Filmen zu bedienen, und insbesondere Skyfall und Spectre orientieren sich offensichtlich an Nolans bei Publikum und Kritik gleichermassen erfolgreichen Batman-Trilogie. So ist es denn auch nicht erstaunlich, dass man Bond wie weiland Bruce Wayne ein oder vielmehr zwei traumatische Kindheitserlebnisse verpasste.
Bereits in Casino Royale wurde en passant erwähnt, dass Bond ein Waisenkind ist. In Skyfall, dessen Showdown auf dem gleichnamigen Familienanwesen spielte, erfuhren wir dann, dass seine Eltern starben, als der kleine James elf Jahre alt war. Ist diese Information nun ein Spoiler? Im Grunde nicht, denn für den Verlauf der Handlung ist sie gänzlich irrelevant. Anders als bei Bruce Wayne, dessen Entscheid, zum dunklen Ritter zu werden, direkt auf den gewaltsamen Tod seiner Eltern zurückgeht, hat Bonds Waisenschaft auch keinen sichtbaren Einfluss auf die Gestaltung der Figur.
Die Drehbuchautoren von Spectre waren dennoch der Ansicht, dass man auf dieser Schiene weiterfahren sollte, und bastelten deshalb eine grosse biografische Enthüllung: Der von Christoph Waltz verkörperte Erzbösewicht Ernst Stavro Blofeld ist in Wirklichkeit Bonds Ziehbruder Franz Oberhauser. Nach dem Tod von Bonds Eltern nahm sich Hannes Oberhauser des Jungen an und zog ihn gemeinsam mit seinem Sohn Franz gross. Doch dieser war auf James so eifersüchtig, dass er seinen eigenen Vater tötete und anschliessend untertauchte.
Teile dieser Vorgeschichte sind bereits in Ian Flemings Romanen zu finden, für alle Nicht-Bond-Afficionados wäre sie aber ein zumindest potenziell spoilerwürdiger Plot-Twist. Spectre betreibt auch einigen inszenatorischen Aufwand, um all diese Details bedeutsam erscheinen zu lassen. Allerdings ohne jegliche Wirkung. Die mühsam aufgebaute Rivalität ist für die Handlung des Films ohne Bedeutung. Als Bond und Blofeld endlich aufeinandertreffen, ist von einer langjährigen Animosität wenig zu spüren. Die vermeintliche Offenbarung entpuppt sich als Pseudo-Twist ohne weitere Konsequenzen. Der tiefe Hass Blofelds auf seinen Ziehbruder wirkt behauptet, ebenso seine Erklärung, für die ganze Unbill, die Bond bislang widerfuhr, verantwortlich zu sein (hier tun sich zudem gewaltige Logiklöcher auf: So war der Skyfall-Schurke Raoul Silva erklärtermassen ein Einzelkämpfer auf persönlicher Rachemission und nicht Teil eines grösseren Plans).
Die vier Filme mit Daniel Craig sind ein gross angelegter – und finanziell äusserst erfolgreicher – Versuch, James Bond für das 21. Jahrhundert aufzudatieren. Und dazu gehört anscheinend auch, dass man bei der allgemeinen Spoiler-Paranoia mitmacht. Selbst wenn es gar nichts zu spoilern gibt, was für den Film irgendwie wesentlich wäre.
Erschienen im Filmbulletin 8/2015.
Siehe auch meine Rezension von Spectre sowie Ikone des Zeitgeists – James Bond im Wandel der Zeit.
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