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Jackie Brown von Quentin Tarantino

Wenn Filmhistoriker dereinst auf das ausgehende zwanzigste Jahrhundert
zurückblicken, werden sie es wahrscheinlich in zwei Zeitabschnitte
unterteilen: in eine Zeit vor und eine nach Pulp
Fiction
. Mögen die Geschmäcke auch verschieden und nicht
jeder ein vorbehaltloser Bewunderer von Tarantinos
zweitem Film sein, es lässt sich trotzdem schon jetzt mit grosser
Sicherheit sagen, dass kein anderer Film dieses Jahrzehnts auch nur annähernd
so einflussreich ist. Pulp Fiction ist der Citizen
Kane
der Neunziger.

Diese Behauptung mag übertrieben scheinene, ich werde sie
auch sogleich relativieren. Citizen Kane ist für mich nicht
der beste Film aller Zeiten, er ist noch nicht einmal Welles´
bester Film (diese Ehre gebührt wahrscheinlich Chimes
At Midnight
, eines seiner unbekanntesten Werke). Kane ist
aber ein Film, der formal richtungsweisend war und Generationen von Filmemachern
beeinflusst hat. Um es mit Truffauts
Worten zu sagen: "Kein anderer Film hat so viele dazu gebracht, Regisseur
zu werden."

Mit meinem Vater streite ich oft über die Bedeutung von Citizen
Kane
. Er meint stets, dass keines der darin verwendeten Stilelemente
wirklich neu war, dass man alles vorher schon einmal gesehen hatte, und
er hat recht. Welles´ Verdienst bestand darin, dass er Elemente wie Tiefenschärfe,
den Schnitt-im-Bild und den unchronologischen Geschichtsaufbau erstmals
in einem Film vereinigte. Auch an Pulp Fiction war nichts
wirklich neu, das Poppig-Überdrehte in Verbindung mit exzessiver Gewaltdarstellung
gab es schon in Wild
At Heart
, die unchrono- logische Erzählweise wurde in Catch22
noch konsequenter eingesetzt, schräge Gangsterfiguren führten
uns die Coens schon mehrmals
vor, und witzige Dialoge gab es auch schon vor Tarantino. Und doch wäre
weder Lynch noch Nichols
oder die Coen-Brüder (sie noch am ehesten), in der Lage gewesen, Pulp
Fiction
zu drehen. Es war Quentin Tarantino, der all diese Stilelemente
zu einer noch nie dagewesenen Mischung verband.

So schnell wie Tarantino ist wahrscheinlich noch niemand zu einem eigenen
Adjektiv gekommen. Unter dem Begriff tarantinoesk tummelt sich derzeit
so ziemlich alles, was irgendwie cool ist oder sein will. Natürlich
beschränkt sich der Einfluss von Pulp Fiction auf das heutige
Kino nicht nur auf ein schwammiges Adjektiv. Die Darstellung von Gewalt,
die Figurenzeichnung, die Art, wie heute Dialoge geschrieben werden, alles
das wurde durch Pulp Fiction verändert (dies im Detail darzulegen
überlasse ich anderen). Tarantino hat auch die Studiolandschaft verändert.
Der Boom der Independents wäre ohne den phänomenalen Erfolg von
Pulp Fiction kaum möglich gewesen.

Wie Tarantino war auch Welles blutjung, als er sein Meisterwerk drehte.
Tarantino hat vorher immerhin schon einen Film gedreht, Welles hatte nur
Erfahrung mit Theater und Rundfunk. Beide hatten nach ihrem fulminanten
Start bald mit Neidern zu kämpfen. Welles haftete der Ruf eines unberechenbaren
Genies und eines grössenwahnsinnigen Scharlatans an, Tarantino galt
bald als eingebildeter Rüpel, der seine Kritiker auch schon mal in
aller Öffentlichkeit verprügelt. Für Welles hatte diese
Schmutzkampagne zur Folge, dass er ein Leben lang mit Produzenten und Studios
zu kämpfen hatte und manches Projekt nie beenden konnte. Tarantino
wird dieses Problem vorerst nicht haben, sein Name ist nach wie vor Gold
wert. Zu verdanken hat er dies vor allem dem grossen finanziellen Erfolg
seines Filmes. Indirekt profitiert er aber auch von Welles´ Vorarbeit,
denn erst durch die französischen Kritiker der Sechziger, deren Lieblingskind
Welles war, bekam der Regisseur den künstlerischen Stellenwert zugewiesen,
den er heute hat.

Eine lange Einleitung für eine Filmkritik, doch sie soll deutlich
machen, wie gross die Erwartungen an Tarantino waren, als er sich daran
machte, Jackie Brown zu drehen. Die beiden Skurrilitäten Four
Rooms
und From
Dusk Till Dawn
hatte man schon grosszügig vergessen, nun aber
erwartete man einen würdigen Pulp Fiction-Nachfolger.

Jackie Brown (Pam Grier)
ist eine Stewardess in den mittleren Jahren, die für den Waffenhändler
Ordell (Samuel L.
Jackson
) Schwarzgeld über die mexikanische Grenze schmuggelt.
Als sie von der Polizei festgenommen wird, weiss sie, dass ihr Leben an
einem seidenen Faden hängt, denn Ordell bringt jeden Zeugen, der ihm
gefährlich werden könnte, kaltblütig um. Es gelingt Jackie
vorerst, Ordell von ihrer Loyalität zu überzeugen. Mit Hilfe
des Kautionanwaltes Max Cherry (Robert
Forster
), schafft sie es schliesslich Polizei und Ordell gegeneinander
auszuspielen und zum Schluss mit einer halben Million Dollar als lachende
Dritte dazustehen.

Wie in Pulp Fiction ist auch in Jackie Brown eine von
zwielichtigen Gestalten bevölkerte Halbwelt der Schauplatz der Geschehnisse,
der Blick des Filmes ist aber ein vollkommen anderer. Im Vordergrund stehen
diesmal die Figuren und ihre Motivationen. Tarantino nimmt sich ungewöhnlich
viel Zeit, um sie uns vorzustellen. Der Film präsentiert dem Zuschauer
keine eindimensionalen Abziehbildchen sondern vielschichtige Persönlichkeiten,
die ihm ans Herz wachsen. An die Stelle urkomischer Nonsensedialoge sind
leise Gespräche über das Älterwerden und die Erwartungen
an das Leben getreten. Die Gewalt wird noch beiläufiger gezeigt, teilweise
geschieht sie sogar ausserhalb der Leinwand.

Bewusst unterläuft der Film die Erwartungen der Zuschauer, statt
einem Pulp Fiction-Abklatsch setzt Tarantino dem Publikum eine melancholische
Charakterstudie mit fast kammerspielartigem Charakter vor. Jackie Brown
ist ein Darstellerfilm, und die Besetzung zeigt Tarantinos ausgezeichnetes
Gespür für Schauspieler. Neben Jackson und DeNiro,
die gewohnt grossartig agieren, glänzen vor allem Grier und Forster.
Wie seinerzeit bei Travolta
hat Tarantino zwei vergessene Schauspieler ausgegraben und zu Höchstleistungen
angetrieben (Grier war in den Siebzigern Star schwarzer Actionfilme, sogenannte
Blaxploitation-Filme. Foster agierte in einer hierzulande vollkommen unbekannten Fernsehserie.). Auch Michael
Keaton
als ehrgeizig-einfühlsamer Polizist und Bridget
Fonda
als dauerbekiffte Freundin Ordells wissen zu überzeugen.

Ganz mochte Tarantino auf den unchronologischen Aufbau von Pulp
Fiction
nicht verzichten. Der Höhepunkt des Filmes, eine fingierte
Geldübergabe, in der Jackie alle austrickst, zeigt er uns dreimal
hintereinander, jedes mal aus der Perspektive einer anderen Figur. So gekonnt
Tarantino sich an dieser Stelle auch dieses Stilmittels bedient, andernorts
verzettelt er sich in überflüssige Rückblenden und andere
optische Mätzchen. Hauptschwäche von Jackie Brown ist
aber die Länge. Manchmal lässt sich der Film einfach zu viel
Zeit, dehnt Szenen unnötig aus, auch wenn schon längst alles
gesagt wurde, und strapaziert die Nerven der Zuschauer durch schleichende
Abblenden.

Jackie Brown kann und will kein zweiter Pulp Fiction sein.
Wohl wissend, dass sich dessen riesiger Erfolg nicht wiederholen liess,
beschloss Tarantino einen Stilwechsel, und er hat gut daran getan. Mit
Jackie Brown beweist er auf eindrückliche Weise, dass er keine
Eintagsfliege ist, sondern ein echter Könner, der das Medium Kino
beherrscht, wie nur wenige seiner Zeitgenossen. Es bleibt zu hoffen, dass
seine Karriere nur in ihrem Beginn Gemeinsamkeiten mit jener von Orson
Welles hat und er uns regelmässig mit neuen Filmen beglücken
kann.

Jackie Brown
in der Internet Movie Database

Ein Kommentar

  1. Obwohl ich Tarantino überschätzt finde, gefallen mir seine Filme meist wegen seinem Schwelgen in Zitaten. Jackie Brown ist der einzige Tarantino, der mir auch ein Gefühl für die Figuren gegeben hat und das macht in besonders. Das QT Szenen endlos dehnt und seine Protagonisten viel zu oft, viel zu viel quatschen ist für mich ein störender Nebeneffekt seines zweifellos beachtlichen Könnens. Ein filmisches Genie wie Orson Welles ist er aber für mich nicht.

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