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Gummo von Harmony Korine

Larry Clarks
Kids sorgte sowohl in den Vereinigten Staaten als auch bei uns für
eine heftige Kontroverse. Befürworter sahen in dem Film eine authentische
und schonungslose Dokumentation des aktuellen Zustandes der heutigen Jugend,
Gegner hielten ihn für einen reisserischen Provokationsfilm, der vor
allem an Publicity interessiert war. Ich hatte den Film nicht gesehen.
Nachdem ich zahlreiche Artikel dazu gelesen hatte, fühlte ich mich
nicht mehr in der Lage, ein objektives Urteil abgeben zu können, und
beschloss deshalb, auf den Kinobesuch zu verzichten. Als ich vergangenen
Herbst in New York war, lief gerade Gummo, der Regieerstling des dreiundzwanzigjährigen
Kids-Drehbuchautor Harmony
Korine
, an. Ich hatte von dem Film zuvor nie gehört, und sah ihn mir
deshalb sogleich an.

Schauplatz von Gummo – der Titel bleibt bis zum Schluss rätselhaft
– ist das Vorortskaff Xenia im Bundesstaat Ohio. Der Ort und seine Einwohner
haben sich von der Zerstörung, die ein Tornado in den siebziger Jahren
angerichtet hat, nie mehr richtig erholen können. Die beiden Hauptfiguren
des aus locker aneinandergereihten Szenen bestehenden Films sind Solomon
und Tunner, zwei Jugendliche, die auf ihren Fahrrädern Jagd auf Katzen
machen, welche sie zum Kilopreis an einen Metzger verkaufen. Das
verdiente Geld investieren sie in Sex und Leim, den sie als Billigdroge
schnüffeln. Weitere regelmässig auftretende Figuren sind ein
nur mit kurzen Hosen und rosa Hasenkappe bekleideter Junge namens Bunny
Boy, ein Schwesterntrio, das die Zeit mit so sinnvoller Beschäftigung
wie der Vergrösserung der Brustwarzen durch Aufkleben von Isolierband
verbringt, und als Krönung ein schwuler, schwarzer Kleinwüchsiger.
Die übrige Bevülkerung von Xenia ist ähnlich sonderbar.

Gummo will keine zusammenhängende Geschichte erzählen, Korine
zeigt uns das Porträt eines heruntergekommenen Städtleins, in
dem man nicht begraben sein möchte. Man säuft, hat Sex, gröhlt
herum oder langweilt sich ganz einfach. Xenia ist ein Ansammlung von Verlierern.
Wer hier geboren wurde, hatte von Anfang an keine Chance.

Formal wandelt der Film abseits ausgetretener Pfade: Korine mischt
35mm, Video, Super8 und Polaroid Photos mit einer beeindruckenden Unverfrorenheit.
Zu verschwommenen Bildern des Tornados hören wir Solomon, der auch
als Erzöhler fungiert, seine Weisheiten raunen. Der Soundtrack wechselt
zwischen debil vorgetragenen Kinderliedern und Heavy Metal.

Anfangs machte mich der Film neugierig, der provokative Stil liess
mich Grosses erwarten. Dies könnte eine neuer Jugendkultfilm werden,
eine Art jugendlicher Ausgabe von Robert
Altmans
Short
Cuts
, ein Gesellschaftsgemälde, bei dem sich die einzelnen Szenen
am Schluss zu einem grossen Ganzen zusammenfügen. Diese Hoffnungen
zerschlugen sich aber bald. Ab etwa der Hälfte wird klar, dass die
einzelnen Teile keine ganze Story ergeben und der Film ein Fragment bleiben
wird. Dies kann Korine aber nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn offensichtlich
war genau das seine Absicht, kritisieren lässt sich dafür so
ziemlich alles andere an Gummo.

Korine will provozieren und zwar um jeden Preis. Die ganze Machart
des Film ist so betont rotzfrech, dass Gummo fast zu einem Lexikon politischer
Unkorrektheiten wird. Bunny Boy pinkelt gerne von Brücken auf Autostrassen,
ein Vater verkauft seine geistig behinderte Tochter als Dorfhure, kleine
Kinder ergehen sich in wahren Schwällen von Obszönitäten,
und Solomon und Tunner schalten einer komatösen Frau die lebenserhaltenden
Geräte ab. In ganz Xenia scheint es zudem nur verdreckte, mit Bergen
von Gerümpel angefüllte Zimmer zu geben. Die visuelle Machart,
eine Kreuzung aus MTV und Experimentalfilm, und die reichlich eingesetzten
Laiendarsteller unterstreichen Gummos Willen zur Provokation noch. Wer
soviel Lärm in einem Film macht, muss auch etwas zu sagen haben, aber
hier enttäuscht Korine am meisten, denn die Botschaft des Films wird
bis zum Schluss nicht ersichtlich. Soll Gummo ein realistisches Portrait
des zeitgenössischen Amerikas sein? Kaum, dazu sind die Figuren zu
überzeichnet und zu einseitig. Auch als Satire ist der Film misslungen,
denn Korine macht sich einer der schlimmsten Sünden schuldig, die
ein Geschichtenerzähler überhaupt begehen kann: er hat keinerlei
Respekt vor seinen Figuren. Gummo ist eine wahre Parade grotesker Gestalten,
kaum einer der Bewohner Xenias ist nicht geistig oder körperlich behindert
oder zumindest auffallend hässlich. In einer in aller Ausführlichkeit
gezeigten Szene rasiert sich eine Frau, gespielt durch eine geistig behinderte
Darstellerin, die Augenbrauen. Der Zweck oder Grund dieser Handlung ist
nicht ersichtlich, wir werden der Frau im ganzen Rest des Films nicht mehr
begegnen. Eine andere Szene beginnt mit einem Paar Taubstummer, die mit
wilden Gesten und unverständlichen Lauten miteinander streiten. Die
Kamera schwenkt langsam an den beiden vorbei auf die drei Schwestern, die
die eigentlichen Hauptfiguren dieser Szene sind. In beiden Fällen
setzt Korine seine Protagonisten nur als billige Lachnummern ein, Gummo
verkommt so zu einer modernen Monströsitätenschau.

Das stetige Verletzen des guten Geschmacks wirkt aber auf die Länge
weder besonders erfrischend noch sinnvoll, sondern ganz einfach ärgerlich.
Filme können und sollen provokant und schockierend sein, wenn sie
eine Aussage zu machen haben. Korine gibt aber keine Statements ab, sondern
beschränkt sich darauf, den Zuschauer in jeder Szene aufs Neue herauszufordern.
Kurz vor Filmende nimmt Solomon ein Bad und isst zugleich seine Spaghetti.
Shampoo spritzt in das Essen, das Solomon in der widerwärtigsten Weise
zu sich nimmt, und der Schokoriegel fällt in das Badewasser, das aussieht,
als käme es frisch aus der Kanalisation. Solomon stört dies nicht,
er stopft den Riegel genüsslich in sich hinein. Zweck der Szene ist
nur, Ekel zu erregen, eine Botschaft steckt nicht dahinter.

Laut Artikeln über Gummo, die ich im Internet gefunden habe, sieht
Korine sich selbst als eine Mischung aus Jean-Luc
Godard
und Werner
Herzog
, eine bemerkenswerte Selbstüberschätzung. Korine scheint
davon überzeugt, dass sein Film allein durch sein Provokationspotential
zum Kunstwerk wird, und dass, wer den Film nicht mag, ein heuchlerischer
Spiesser ist. Gummo ist aber nicht Kunst, sondern Ärgernis. Korine
besitzt zweifellos ein Talent für groteske Figuren und Szenen, auch
visuell ist der Film sehr kraftvoll, er ist aber weder an Story, noch an
Figuren oder an Aussagen interessiert, sondern einzig und allein an einem
verkaufsfördernden Skandal. Gummo wirkt so zynisch kalkuliert, dass
einen wirklich die Wut packen kann. Was sich als künstlerischer Autorenfilm
ausgibt, ist in Wirklichkeit ein verlogenes Machwerk.

Gummo in der
Internet Movie Database

Ein Kommentar

  1. Thurid H. Spacecomper Thurid H. Spacecomper

    ich glaube nicht, daß harmony korine ” einen verkaufsfördernden ” skandal produzieren wollte. ich verstehe die wut vieler filmfreunde nicht; wenn andy warhol hinter der angelegenheit stehen würde, wäre die akzeptanz da. manche angelegenheiten sollte man als kunst im tieferen sinne akzeptieren. gerade werner herzog, der später noch mit dem harmony zusammen gearbeitet hat, bekam zu beginn seiner aktivitäten nicht die ihm zustehende resonanz.

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