Der Erfolg – auch der künstlerische – ist eine janusköpfige Gestalt. Jeder sucht ihn, jeder will ihn,
doch wer ihn einmal hatte, verflucht ihn nicht selten im Nachhinein. Mancher Künstler jagt sein Leben lang seinem
einstigen grossen Erfolg hinterher. Wer einmal ein Meisterwerk abgeliefert hat, darf künftig nicht mehr dahinter zurückfallen, muss jedes mal
noch einen drauf geben. Zahlreiche
Filmregisseure können davon ein Lied singen. Orson Welles zum Beispiel, dessen grosses Pech es war, Citizen Kane bereits
im Alter von 26 Jahren zu drehen. Oder, jüngeren Datums, Quentin Tarantino. Mit was immer er uns
in Zukunft noch überraschen wird, die Prognose, dass er den Erfolg von Pulp Fiction nie wird wiederholen können,
ist wohl nicht allzu waghalsig.
Auch Martin Scorsese kennt die Leiden des Erfolgdrucks, womit freilich nicht behauptet werden soll, er habe nur einen überragenden Film gedreht. Ganz
im Gegenteil hat Scorsese die Filmgeschichte schon um einige Meilensteine bereichert; eine Tatsache, die den Druck allerdings nicht zu vermindert haben scheint.
Bei dem Italoamerikaner kommt nämlich noch ein weiterer Faktor erschwerend hinzu: Wer in seinem Schaffen so obsessiv die immer
gleichen Fragen umkreist wie er, hat es doppelt und dreifach schwer, sich jedes mal von neuem selbst zu überbieten. Casino etwa ist
zweifellos ein sehenswerter Mafiafilm und hat doch ein ganz grosses Problem: Scorsese selbst hat bereits fünf Jahre früher sein überragendes Mafiaepos Goodfellas
gedreht, und dem hat auch Casino, all seinen unbestrittenen Qualitäten zum Trotz, nichts hinzuzufügen.
Und nun also Gangs of New York. Scorsese selbst hat kräftig dazu beigetragen, die Erwartungen ins Gigantische wachsen zu lassen. Gangs
sollte einfach alles werden: das definitive New York-Epos, der neue Massstab für alle künftigen Gangsterfilme und überhaupt der
endgültige Scorsese. Und als wäre das noch nicht genug, soll hier auch noch Geschichte geschrieben werden, und dies gleich im
doppelten Sinn. Mit Gangs will Scorsese nicht nur eine vergessene historische Episode ins Gedächtnis rufen, sondern auch
noch das neue filmische Nationalopos schaffen; Birth of a Nation für das 21. Jahrhundert. Dazu kommt noch
das Drama der Produktionsgeschichte: Wie Scorsese mit seinem Produzenten Harvey Weinstein um jeden Dollar und um jedes Bild einzeln gerungen hat, ist schon jetzt Legende.
Schauplatz des Films ist der New Yorker Stadteil Five Points während des Sezessionskrieges. Auf den Strassen herrscht blanke Anarchie. Auf
engstem Raum leben Tausende Mittelloser, und am Hafen spucken die ankommende Schiffe täglich neue Einwanderer, hauptsächlich Iren, aus. Hier
tobt der ständige Kampf ums nackte Überlegen, ein menschliches Leben ist weniger wert als nichts. Mit urzeitlichen Waffen, mit Äxten und Keulen,
schlagen sich Einheimische und Neuankömmlinge gegenseitig die Schädel ein. Die hehren Ideale der Gründerväter gelten in dieser
Hölle nichts, hier gibt es nur Gewalt und Eigennutz. Es ist ein ungewohntes Amerikabild, das uns der Film da zeigt. Vieles wirkt geradezu mittelterlich; zu Beginn, als die Vorbereitungen zu einer grossen Bandenschlacht
gezeigt werden, fühlt man sich fast an Jacksons Lord of The Rings erinnert, so archaisch wirken Figuren und Kulissen. Monumentale Schlachtengemetzel,
unglaublich brutale und furios inszenierte Panoramen der Gewalt, stehen am Anfang und Ende von Gangs, bilden den Rahmen des Films und machen klar:
vom Mythos des grossen Schmelztiegels, vom Hort der Verfolgten, bleibt bei Scorsese wenig übrig. Die Geburt Amerikas aus dem Geiste der Gewalt.
Vor diesem blutroten Hintergrund erzählt der Film nun die Geschichte des jungen Amsterdams (Leonardo DiCaprio), Sohn des Ganganführers, der bei der Eröffnungsschlacht ums Leben
gekomm ist, erschlagen, von Bill the Butcher (Daniel Day-Lewis), dem Chef der Natives. Jahre, nachdem er die Ermordung seines Vaters ansehen musste, kehrt
Amsterdam nach Five Points zurück und sinnt auf Rache. Bill ist mittlerweile unangefochtener Herrscher über den Stadtteil und arbeitet den korrupten Politikern zu, die,
abgesondert und von der Armee beschützt, in einem anderen Stadtteil leben und das Elend der Massen für ihre Zwecke funktionialisieren. Anstatt Bill bei der ersten Gelegenheit
niederzumachen, schmeichelt sich Amsterdam in dessen Gunst ein und verfällt immer mehr dem Charisma des Metzgers. Denn dieser Bill ist wahrlich
ein sehenswerter Schurke, eines Ehrenplatzes im Olymp der Film-Bösewichter würdig. Bill ist kein kühl kalkulierender Stratege, sondern ein
impulsiv Agierender, ein Mann der Aktion und echter Ästhet der Gewalt, der sein blutiges Gewerbe zwar rücksichtslos, aber dennoch mit einer Art Ethos betreibt. Day-Lewis, sonst eher
für zurückhaltende und feinfühlige Charakterstudien bekannt, spielt diesen Künstler-Metzger mit sichtbarer Begeisterung, stets hart
am Rande der De Niro-Parodie, doch immer sehenswert. Daneben fällt DiCaprio ab, muss es tun, denn seine Rolle bleibt seltsam ungreifbar, sein Charakter unklar und seine
Wut vor allem eine behauptete. Ohnehin ist der Plot alles andere als eine Offenbarung. Die Geschichte des Rächers im Gewissenskonflikt ist nun wirklich nicht neu, und
Gangs bietet auch keine originellen Varianten. Dem Zuschauer bleibt dieser Amsterdam eigentlich während des ganzen Filmverlaufs fremd, und auch die Liebesgechichte mit der Taschendiebin Jenny (Cameron Diaz)
scheint vor allem ein Tribut an die Genrekonvention zu sein, echtes Leben kriegt sie nie eingehaucht.
Natürlich sorgt Scorsese in Zusammenarbeit mit seinem Lieblingskameramann Michael Ballhaus für so manchen schönen Moment. Etwa in
einer grossartigen Einstellung am Hafen: Die ausgemergelten Iren kommen aus ihren Schiffen, schreiben sich, kaum haben sie amerikanischen Boden betreten, bei der Armee ein,
kriegen ein Stück Brot und eine Uniform verpasst und müssen sogleich wieder ein Schiff besteigen, das sie zum nächsten Kriegsschauplatz bringen wird. Und während die Kamera an
den frisch Uniformierten vorbeifährt, kommt von oben bereits ein Sarg ins Bild; unten steigt das neue Kanonfutter ein, oben werden die Gefallenen entladen. Das alles ist – sicher auch als
Remineszenz an die berühmte Plansequenz in Goodfellas – ohne Schnitt gedreht. Hier zeigt Scorsese, was er wirklich kann, das ist mitnichten leere Virtuosität, sondern vielmehr die
grausame Ironie der Geschichte in filmischer Form verdichtet. Während der drei Stunden, die der Film dauert, werden dem Zuschauer noch einige
solcher Perlen serviert, doch sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gangs Flickwerk bleibt. Scorsese erreicht die dramaturgische
Geschlossenheit seiner grossen Filme nicht einmal ansatzweise.
Das Hauptproblem von Gangs ist ein strukturelles: Dem Film gelingt es nie, die Historie im Plot zu fokussieren. Die Dreiecksbeziehung zwischen Bill, Amsterdam und Jenny erweist sich als völlig ungeeignet, um die
unzähligen historischen Stränge zu bündeln. Das Gesellschaftspanorma verbindet sich nie mit der Filmhandlung. Es läuft zwar immer
etwas in Gangs, es gibt ein ganzes Heer von Nebenfiguren, die verschiedenen Elemente bleiben aber Bruchstücke und fügen sich nie zu dem
angestrebten Gesellschaftgemälde zusammen. Vieles in Gangs scheint völlig willkürlich, ohne dramaturgische Notwendigkeit oder
sonst aus der Handlungslogik heraus zu geschehen. Und ganz oft hat man den Eindruck, eine Rohfassung des Filmes zu sehen. Obwohl Scorsese in
unzähligen Interviews immer wieder betont, dass diese Fassung von Gangs die endgültige sei und es keinen irgendwie gearteten
Director’s Cut geben werde, wird man als Zuschauer das Gefühl nicht los, nur die Trümmer und verkohlten Überreste eines Filmes zu sehen.
Scorsese hat sich viel für seinen Film vorgenommen, viel zu viel. Man kann nicht einmal sagen, dass der Regisseur mit seinem Traumprojekt ehrenhaft gescheitert wäre, denn
Gangs scheint schon in seiner grundlegenden Anlage nicht zu funktionieren. Sollte Scorsese ausgerechnet für diesen Film seinen ersten Oscar erhalten,
so wäre das wirklich bittere Ironie.
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