Die allseits grassierende Furcht vor Spoilern geht von der Annahme aus, dass der Genuss beim Schauen eines Films zu einem hohen Grad davon abhängt, ob uns dieser überraschen kann. Je mehr wir im Voraus wissen, desto kleiner das Vergnügen.
Spontan leuchtet diese Argumentation ein. Wir gehen ja unter anderem ins Kino, um in unbekannte Welten entführt zu werden. Wir wollen etwas Neues erleben und nicht unseren profanen Alltag, den wir bereits zu Genüge kennen. Wie gesagt: Auf den ersten Blick erscheint diese Begründung durchaus plausibel, bei genauerer Betrachtung offenbaren sich aber einige Widersprüche.
So ist bereits die Behauptung, dass wir ins Kino gehen, um uns vom Film überraschen zu lassen, mehr als fragwürdig. Denn eigentlich entspricht das gar nicht dem Verhalten des durchschnittlichen Kinogängers. Vielmehr wissen wir im Normalfall sehr genau, was für einen Film wir uns anschauen. Von den französischen Surrealisten wird zwar erzählt, dass sie gemeinsam durch Paris zogen, sich wahllos in laufende Kinovorstellungen setzten, um nach einiger Zeit wieder zu gehen und den nächsten Saal zu kapern. Ihr Interesse galt nicht den Geschichten, sondern der traumhaften Qualität des Mediums Film. Entsprechend war ihnen die Handlung, die sich auf der Leinwand entfaltete, reichlich egal. Diese Art des Filmkonsums ist aber definitiv nicht die Norm. Die wenigsten Zuschauer schauen sich zufällig irgendeinen Film an, dem Kauf des Tickets gehen meist sorgfältige Abwägungen voraus.
In diese Abwägungen spielen verschiedene Faktoren hinein. Nicht nur persönliche Empfehlungen und Filmrezensionen, sondern auch unser Wissen – was hat dieser Regisseur bisher gemacht, wie war der letzte Film mit dieser Schauspielerin? – und unsere Vorlieben. Jeder hat Genres, Regisseure oder Schauspieler, die er mag, und andere, die ihm nicht liegen. Dazu kommen Dinge wie die Begleitung oder die aktuelle Gemütslage; manchmal ist man schlicht nicht in der Stimmung für einen Film von Ulrich Seidl und zieht die romantische Liebeskomödie mit Hugh Grant vor.
Was hier deutlich wird, ist, dass wir meist sehr konkrete Erwartungen an einen Film haben. Und normalerweise gehen wir davon aus, dass diese auch erfüllt werden. Die wenigsten Zuschauer würden es begrüssen, wenn sich ein Film mit Hugh Grant nicht als leichte Muse, sondern als Seidl’sche Spiesserhölle entpuppen würde. Letztlich baut das gesamte Genrekino – und damit ein beträchtlicher Teil der Filmindustrie – ja just darauf auf, dass das Publikum nur neue Variationen des Altbekannten wünscht. Denn ein Genre ist nichts anderes als eine Abkürzung für den Satz «Das ist ein Film wie …».
Zudem ist es keineswegs eindeutig, was wir an einem Film mehr schätzen – die unerwartete Wendung oder die Lust an der Wiederholung, die Gewissheit, dass Grant am Ende das Mädchen kriegen wird respektive Österreich immer noch schrecklich ist. Nicht umsonst sprach der Psychologe Hugo Münsterberg, einer der Pioniere der Filmpublizistik, schon 1914 vom warmen Bekanntheitsgefühl, welches das Kino bei seinen Zuschauern auslöst.
So gesehen müssten Spoiler den Genuss nicht schmälern, sondern ihn im Gegenteil steigern. Je mehr wir im Voraus wissen, umso eher entspricht der Film unseren Erwartungen und umso mehr können wir uns über Bekanntes freuen.
Diese Schlussfolgerung mag etwas überspitzt sein, sie wird von der empirischen Forschung aber zumindest teilweise bestätigt. Denn längst haben sich auch die Psychologie und verwandte Disziplinen der Frage angenommen, welchen Effekt Spoiler auf die Zuschauer haben. In einer ersten Studie an der University of California in San Diego erhielten Probanden Kurzgeschichten zur Lektüre – die eine Hälfte mit vorangehender Zusammenfassung, die andere ohne. Das Resultat war eindeutig: Die Teilnehmer der Studie mochten die Geschichten lieber, wenn sie im Voraus über den Verlauf Bescheid wussten.
Es sei hier nicht verschwiegen, dass spätere Studien teilweise zu komplett entgegengesetzten Ergebnissen kamen, wobei der genaue Aufbau der Untersuchungen jeweils variierte. Ohnehin sind die Ergebnisse derartiger Studien stets mit Vorsicht zu geniessen. Nicht zuletzt, weil scheinbar so simple Dinge wie «eine Geschichte mögen» in Wirklichkeit hochkomplex sind und sich kaum sinnvoll messen lassen. Wir können an einer Erzählung oder einem Film ganz unterschiedliche Aspekte schätzen, der Handlungsverlauf ist da nur einer von vielen. Eine mögliche Erklärung für das Resultat der San-Diego-Studie wäre denn auch, dass sich ein Leser, der bereits weiss, was geschehen wird, weniger auf den Plot konzentrieren muss. Das wiederum eröffnet die Möglichkeit, mehr auf andere Dinge zu achten, etwa die Figurenzeichnung, die Sprache oder die Art und Weise, wie erzählt wird. Das wäre freilich ebenfalls ein Argument dafür, Spoiler ein wenig lockerer zu nehmen. Denn eine Erzählung oder ein Film sind immer unendlich viel mehr als bloss eine Geschichte.
Erschienen im Filmbulletin 7/2016.
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