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Der Plot-Pointer
Die Kunst des …

Nachdem es in den vergangenen zwei Jahren an dieser Stelle um Spoiler in all seinen Erscheinungsformen ging, erweitern wir nun den Fokus der Kolumne. Unter einem Plot Point versteht man einen zentralen erzählerischen Wendepunkt. Entsprechend wird es hier ganz allgemein um Fragen der Dramaturgie gehen, darum, wie filmische Erzählungen gebaut sind, welche Tricks Drehbuchautoren und Regisseure nutzen, um ihre Geschichten möglichst wirkungsvoll auf die Leinwand zu bringen. Den Auftakt macht die Auslassung oder, wie man in der Erzähltheorie sagt, die Ellipse.

Wie in jeder anderen Kunstform ist auch im Film, das, was nicht gezeigt wird, oft mindestens so wichtig wie das Gezeigte. Die wenigsten Filme präsentieren uns Handlungen in voller Länge. Wenn beispielsweise eine Figur ihre Wohnung verlässt, um zur Arbeit zu fahren, sehen wir in der Regel bloss, wie sie den einen Ort verlässt und am anderen ankommt. Geschieht während der Fahrt nichts, was für die Handlung von Belang ist, muss es auch nicht gezeigt werden.

Neben der Auslassung, die vor allem dazu dient, die Erzählung zu fokussieren und zu beschleunigen und die uns in praktisch jedem Film begegnet, gibt es auch dramaturgisch bedeutsame Ellipsen. Das klassische Whodunit baut darauf, dass wir nicht Zeuge des Verbrechens sind. Würde dieses gezeigt, entstünde keine Spannung. Die Krimi-Ellipse hält Informationen zurück, die dann im Lauf der Handlung allmählich enthüllt werden. Höhepunkt und Auflösung sind das Ausfüllen dieser Auslassung, sei es durch eine Rückblende, eine Erklärung des Detektivs, ein Geständnis des Täters oder einer Kombination aus diesen drei Dingen.

Die Whodunit-Ellipse ist altbewährt, raffinierter sind aber Auslassungen, die nicht bloss Informationen unterschlagen, sondern davon ausgehen, dass wir ohnehin wissen, was geschieht. In Bob Fosses Cabaret gibt es beispielsweise eine Szene, in der die von Michael York gespielte Hauptfigur Brian auf der Strasse von Nazis, die Werbematerial verteilen, angesprochen wird. Brian, der nach einem Streit mit seiner Geliebten bereits vor Wut kocht, regt das derart auf, dass er die beiden Männer beschimpft und schliesslich deren Hakenkreuzfahne umwirft. Anstatt zu zeigen, was nun geschieht, schneidet Fosse direkt auf eine Nahaufnahme des arg lädierten Brian, der zu Hause im Bett liegt. Ein abrupter Szenenwechsel, der garantiert für Gelächter sorgt, wobei die Komik gerade daraus entsteht, dass wir nicht gesehen haben, wie Brian verprügelt wird.

Inside Llewyn Davis
Llewyn Davis beim «Please-Mr.Kennedy»-Gig.

Grosse Meister der Auslassung sind die Coen-Brüder. Das Regieduo hat schon immer fleissig aus der Hollywoodtradition geschöpft, doch mittlerweile sind die beiden so weit, dass sie ganze Handlungsstränge nur noch andeuten. Weil sie darauf vertrauen, dass das Publikum auch so weiss, was geschehen wird. Etwa in ihrem Musikerfilm Inside Llewyn Davis. Gerade hat die Hauptfigur, der mit allen verkrachte Folk-Musiker Llewyn Davis, als Gitarrist und Backing-Sänger bei der Aufnahme eines humoristischen Songs über das US-Raumfahrtprogramm mitgewirkt. Der Produzent stellt ihm zwei Bezahlungsvarianten zur Auswahl: Sofortige Barbezahlung oder später eine Umsatzbeteiligung. Llewyn, der dringend Geld braucht und den Song sowieso für unter seiner Würde hält, will die Gage bar auf die Hand. Der Produzent fragt noch einmal nach und betont, dass Llewyn leer ausgehen wird, falls das Stück erfolgreich sein sollte. Doch dieser insistiert. Viele andere Filme würden nun ausführlich zeigen, wie aus dem dämlichen Lied ein Hit wird, wie Llewyn mit seinem Fehlentscheid hadert. Nichts davon bei den Coens. Dass sich Llewyn falsch entschieden hat, ist sowieso klar.

Michael Fassbender
Der doppelte Michael Fassbender in Alien: Covenant.

Cabaret und Inside Llewyn Davis gehen beide von einem intelligenten Zuschauer aus und setzen darauf, dass das Produkt von dessen Vorstellungskraft interessanter ist als alles, was der Film zeigen könnte. Grosse Hollywoodproduktionen tendieren heute eher in die andere Richtung. Anstatt offensichtliche Dinge zu streichen, lassen Blockbusterregisseure sicherheitshalber lieber eine Figur auftreten, die noch einmal genau erklärt, um was es eigentlich geht. Und wenn mal etwas ausgelassen wird, dann meist in der offensichtlichsten Weise. Ridley Scott, der seit Jahren damit beschäftigt ist, sein einst erworbenes Renommee zu zerstören, führt in seinem jüngsten Film Alien: Covenant vor, wie man nicht mit Auslassungen umgehen sollte. Dramaturgischer Höhepunkt des Films ist der Showdown zwischen den beiden Androiden David und Walter. Die beiden sehen äusserlich gleich aus, doch Walter ist gut und auf der Seite der Menschen, während David die technische Ausgeburt des Bösen ist. Walter scheint im Kampf auf Leben und Tod die Oberhand zu haben, doch David versucht, das Messer zu fassen, das in der Nähe liegt. Schnitt, und wir sehen, wie Walter zu seiner Crew zurückkehrt und sich alle zum Weiterflug aufmachen. Der Ausgang des Kampfes wurde ausgelassen, doch wozu? Sollen wir glauben, dass Walter siegreich war? Soll der Schluss, als sich der vermeintliche Walter als David entpuppt, eine Überraschung sein? Was immer Scotts Intention war, sie funktioniert nicht, denn jeder weiss, was die Ellipse beinhaltet – beinhalten muss. Hätte Walter David tatsächlich umgebracht, gäbe es keinen Grund, dies nicht zu zeigen. Der Film verheimlicht uns etwas, und es braucht nicht viel Phantasie, um zu erraten, was das sein könnte. Alles, was nachher kommt, ist unnötiges Ausbuchstabieren. Diese Auslassung hätte Scott besser ausgelassen.

Erschienen im Filmbulletin 5/2017.

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