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DER SPOILER
Ein kurze Geschichte der Spoilerphobie

Spoilerphobie ist heute ein so integraler Bestandteil der Film- und Fernsehkultur, dass man meinen könnte, es handle sich um ein altes Phänomen. Dem ist aber keineswegs so. Die Diskussionen um Spoiler stellen eine verhältnismässig neue Erscheinung dar, die allerdings einiges über die aktuelle Medienlandschaft aussagt.

Schon der Begriff selbst ist relativ jung. Im heutigen Sinn taucht er erstmals 1982 gehäuft auf, und zwar in Newsgroup-Diskussionen über den zweiten Star-Trek-Film. In den allgemeinen Sprachgebrauch geht er dann erst um die Jahrtausendwende über.

Dass es ausgerechnet eine Onlinediskussion über einen Science-Fiction-Film ist, in der zum ersten Mal vor Spoilern gewarnt wird, ist kein Zufall, denn das Phänomen ist eng mit dem Aufstieg des Internets sowie dem Siegeszug bestimmter Genres verknüpft. Ersteres ist nicht weiter erstaunlich, denn erst Kommunikationsformen wie Blogs und vor allem soziale Medien machen das Spoilern im grossen Stil überhaupt möglich. Mit Facebook kann ich nicht nur ohne Verzögerung viele Leute erreichen und so meine Enthüllungen ungeheuer schnell verbreiten, für die anderen User ist es zudem praktisch unmöglich, sich ungewünschten Inhalten zu entziehen. Eine gedruckte Filmrezension kann man überblättern; bis man aber gemerkt hat, dass man einen bestimmten Facebook-Post gar nicht lesen will, ist man damit oft schon halb durch.

Laurence Olivier als Hamlet
Hamlet muss sterben – die Gattung schreibt es vor.

Natürlich waren Spoiler auch im vordigitalen Zeitalter möglich, oft war das aber nicht weiter problematisch, weil viele herkömmliche Gattungen von Haus aus twistfrei sind. Nehmen wir die klassische Tragödie: Wenn bei dieser altehrwürdigen Form etwas feststeht, dann dass der Held am Ende das Zeitliche segnen wird. Würde das nicht geschehen, wäre es nicht einmal überraschend – es wäre vielmehr ein gravierender handwerklicher Fehler. Analoge Beispiele gibt es im aktuellen Kino zuhauf. Dass James Bond die Welt retten und das Mädchen kriegen oder dass das Liebespaar am Ende der romantischen Liebeskomödie glücklich vereint sein wird – all das wissen wir. Und nicht nur das. Die Tatsache, dass wir es wissen, hindert uns nicht daran, dennoch mitzufiebern, wenn der furchtlose Actionheld über dem tödlichen Abgrund hängt oder das Liebesglück unserer Heldin für immer zerstört zu sein scheint. Das Wunder der Fiktion liegt gerade darin, dass uns komplett erfundene Geschichten, von denen wir von Anfang an wissen, wie sie ausgehen werden, zu Tränen rühren können.

Freilich gibt es auch Genres, die sich durch die grosse Enthüllung, die unerwartete Überraschung am Ende, auszeichnen. Der klassische Krimi, insbesondere in der Form des Whodunits, wäre hierfür ein Beispiel. Interessanterweise ist dieses Genre in seiner Reinform aber kaum noch anzutreffen. Literarische Krimis sind spätestens seit Georges Simenon weitaus mehr an Milieus und Figuren als am Täter interessiert, und im Kino ist der Krimi ohnehin so gut wie inexistent. Der Krimi ist ein typisches Fernsehgenre, wobei aber bereits bei einer durchschnittlichen Tatort-Folge die Identität des Mörders oft schon früh feststeht und der Fokus mehr auf dem Atmosphärischen liegt.

The Sixth Sense
Am Anfang der Spoiler-Manie standen Filme wie The Sixth Sense.

Zum breiteren Phänomen wird die Spoilerphobie erst mit Filmen wie The Sixth Sense und Serien wie Lost, also mit Erzählformen, bei denen Rätsel und deren überraschende Auflösung ins Zentrum rücken. Das Aufkommen dieser Produktionen hängt dabei seinerseits mit veränderten Rezeptionsbedingungen zusammen. Mit dem Erfolg der DVD und später von Streaming-Diensten und der damit verbundenen Möglichkeit, einen Film immer wieder anzuschauen und später online zu diskutieren, verändert sich der populäre Film grundlegend. Die Gewissheit, dass zu jeder Fernsehserie und zu jedem Science-Fiction-Blockbuster eine Community existiert, die jede Einstellung seziert und auf tieferen Sinn abklopft, führt zu immer komplexeren Erzählformen. Weil die Fans aber gleichzeitig immer besser über die anstehenden Filme informiert sind, weil sie über Cast, Special Effects und Plot bereits im Voraus Bescheid wissen, erhalten Twists eine ganz neue Bedeutung. Sie werden mit zum Hauptgrund, überhaupt noch ins Kino zu gehen oder sich die Serie anzuschauen. Was der Spezialeffekt für das Visuelle leistet, besorgt der Twist für den Plot.

Die Filme reagieren damit auch auf die generell erhöhte Frequenz, mit der Filme auf den Markt gestossen und wieder ausrangiert werden. In den achtziger Jahren war es nicht unüblich, dass ein erfolgreicher Film mehrere Monate lang im Kino lief, und bei Fernsehserien war man ohnehin der Programmplanung der Fernsehstationen ausgeliefert. Heute sind selbst Blockbuster nach wenigen Wochen wieder aus dem Kino draussen, und eine Serie wie House of Cards kann man auf einen Rutsch runterladen. Es herrscht eine nie dagewesene Hektik – sowohl bei den Produzenten als auch beim Publikum. Vor diesem Hintergrund erscheinen Überraschungsdramaturgie und Spoilerphobie als zwei Seiten derselben Medaille, dem Versuch, dieser Hektik irgendwie zu begegnen.

Erschienen im Filmbulletin 5/2016.

Ein Kommentar

  1. […] das Filmbulletin habe ich mich mehrfach mit dieser Frage beschäftigt. Siehe dazu etwa den Artikel «Eine kurze Geschichte der Spoilerphobie». […]

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