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Die Bühne leer und alle Fragen offen
Dogville von Lars von Trier

Das Kino ist eine grosse Illusionsmaschine. Es erschafft neue Welten, entführt uns in die Sphären der Phantasie. Für Hollywood bedeutet das, immer noch phantastischere Szenerien zu entwerfen, dem Zuschauer mit immer neuen Tricks noch wunderbarere Orte vorzugaukeln. Genau diesem Kino der Verzauberung hat Lars von Trier den Kampf angesagt. Der grösste Illusionist ist für ihn immer noch das menschliche Gehirn. Und so macht er in Dogville buchstäblich reinen Tisch und lässt alles weg, was nach Kulisse oder falschem Schein aussehen könnte. Eine grosse flache Bühne, weisse Markierungen am Boden und ein paar wenige Requisiten wie ein Fenster mit Vorhängen, eine Kirchglocke oder eine Bank reichen dem Dänen, um Dogville, ein kleines Nest in den Rocky Mountains während der grossen Depression, im Kopf des Zuschauers Realität werden zu lassen.

Der Regieexzentiker von Trier geht also nach seinem Dogma-Experiment einmal mehr daran, das Kino radikal neu zu erfinden, dieses mal mit einem stark theaterhaften Arrangement. Und tatsächlich mutet der Film in vielem wie ein Lehrstück an, wirkt wie eine Mischung aus Brecht und kleinem Welttheater. Denn die Bewohner von Dogville mit ihren Schwächen und Sehnsüchten, ihren nur allzu menschlichen Fehlern, stehen stellvertretend für alle Sünder dieser Erde. Die ganze Welt ist eine Bühne, oder auch umgekehrt.

In der Abgeschiedenheit von Dogville taucht eines Nachts Grace (Nicole Kidman) auf, begleitet von Pistolenschüssen. Grace ist viel zu schön für diese Einöde, sie gehört nicht hierher. Sie selbst weiss das auch, will gar nicht bleiben, doch Tom (Paul Bettany), der lokale Möchtegernschriftsteller, dessen Produktion sich bislang auf die beiden Worte „gross klein“ beschränkt, möchte sie unbedingt im Dorf behalten. Für ihn, der seinen Mitmenschen regelmässige moralisch erbauliche Vorträge hält, ist Grace die Prüfung, an der sich Dogville beweisen muss.

Die Fremde wird vorerst widerwillig aufgenommen, doch schon bald zeigt sich, dass ein Leben mit Grace einfach lebenswerter ist. Jedem in Dogville kann sie helfen: Dem blinden McKay (Ben Gazzara) dient sie als Augen, dem tumben Bill Henson (Jeremy Davies) als Gehirn, und der mürrische Chuck (Stellan Skarsgård) hat endlich jemanden, der seine Leidenschaft für Äpfel teilt. Die schöne Grace fügt sich nahtlos in die Reihe der von Trierschen Frauengestalten ein. Auch sie ist Güte und Nachsicht in Person, bereit, alles auf sich zu nehmen. Kidman hat nicht nur das kindliche Lächeln erlernt, welches schon Emily Watson (Breaking the Waves) und Björk (Dancer in the Dark) auszeichnete, mit ihrer blassen Haut und dem scheuen Blick wirkt sie vollends wie ein auf die Erde gefallener Engel.

Für eine kurze Zeit herrscht Idylle und Harmonie im Dorf, doch als man gemeinsam den vierten Juli feiern will, fährt zum zweiten mal der Sheriff vor. Bei seinem ersten Besuch hinterliess er eine Vermisstenanzeige, dieses mal kommt es noch schlimmer: Grace wird steckbrieflich gesucht. Noch scheinen sich die Einwohner davon nicht beeindrucken zu lassen, offiziell steht man noch zu der Verfolgten, doch das labile dörfliche Gleichgewicht ist gestört. Grace, diese Personifizierung der Reinheit, ist erpressbar geworden, und langsam aber sicher nutzen die Einwohner von Dogville ihre Schwäche aus. Was nun folgt, kennt man bereits aus von Triers früheren Filmen: Grace muss eine einzige Abfolge von Demütigungen hinnehmen. Sie wird erniedrigt, gequält und vergewaltigt. Der Engel bringt in jedem Einwohner von Dogville die schlechteste Seite zum Vorschein, und sie, die niemandem etwas Böses will, nimmt alles auf sich, erkennt ihre nicht existierende Schuld an und hält bereitwillig die andere Wange hin.

So weit nichts Neues im von Trierschen Land. Wieder wohnen wir dem Opfergang einer Frau bei, die einfach zu gut ist für diese Welt. Doch bevor wir uns ernsthaft über das Frauenbild des Regisseurs wundern können, kommt es zu einer unerwarteten Wendung: Die Erniedrigte schlägt zurück. In einer Mischung aus Fegefeuer, Weltenbrand und Apokalypse lässt Grace das ganze Dorf dem Erdboden gleichmachen, bis von Dogville nur noch der Dog übrig bleibt.

Von Trier ist auch bei Dogville wieder auf der Suche nach der filmischen Reinheit. Doch anders als bei seinem Dogma-Experiment, das in erster Linie ein gelungener PR-Gag war, heisst die Devise dieses mal nicht Verzicht auf Technik. Von Triers jüngster Film strebt keinen ungefilterten Realismus an, sondern ist vielmehr hochartifiziell. Genauer betrachtet ist der Film das krasse Gegenteil des Dogma-Naturalismus, die Reduktion der Mittel ist nur eine scheinbare. Was bei Dogville an Kulisse eingespart wird, wird durch eine äusserst kunstvolle Lichtsetzung wettgemacht. Dazu fahren Autos auf die Bühne, kommt im Herbst dichter Nebel auf und fallen im Winter malerische Schneeflocken. Der Erzählung schadet das nicht. Nicht zuletzt des handverlesenen Ensembles wegen gewöhnt man sich als Zuschauer schnell an die ungewohnte Aufmachung des Films, wenn auch der Gag mit den unsichtbare Türen, die geöffnet und geschlossen werden müssen, ein wenig überstrapaziert wird. Störender wirkt da die nervöse Handkamera, die der Regisseur selbst führt. Zwar schüttelt und ruckt sie bedeutend weniger als in Breaking the Waves oder Idioterne, zu der strengen Anlage des Films will die unruhige Bildführung aber nicht so recht passen.

So stilisiert der Film ist, von Trier wäre nicht von Trier, wenn er es nicht auch dieses mal schaffen würde, den Zuschauer emotional zu packen, und das ist im Grunde das Erstaunlichste an seinen Filmen. Jedes neue Projekt ist eine noch kühnere Versuchsanordnung, bei der möglichst viele Regeln des Spielfilms gebrochen werden sollen. Aber so künstlich die Anlage auch sein mag, der Däne ist einfach zu gut, als dass ihn das irgendwie in seiner Arbeit behindern würde. Auch dieses mal spielt er wieder mühelos auf der Klaviatur der Gefühle, schickt das Publikum auf eine emotionale Höllenfahrt.

Von Trier kann Filme machen, daran besteht kein Zweifel; er ist wahrscheinlich eines der grössten Talente des europäischen Kinos. Doch bei allem Können drängt sich bei Dogville die Frage auf, was das Ganze eigentlich soll, worauf der Film letztlich hinauswill. Am Ende, nachdem die Bühne in blutigem Rot versunken ist, herrscht vor allem grosse Irritation. Mit seinem stilisierten Aufbau macht uns der Film in jeder Einstellung von neuem klar, dass er nicht „bloss eine Geschichte erzählt.“ Das Kino wird in Dogville vielmehr zur grossen Symbol- und Metaphernmaschine. Alles ist hier durchtränkt von Anspielungen und tiefem Sinn. Brecht und die Bibel stehen Pate, der Off-Kommentar ist eine Referenz an Kubricks Kostümepos Barry Lyndon, und in den zehn Kapiteln des Films wird die Zeitspanne eines vollen Jahrs mit den vier Jahreszeiten abgedeckt. Alles schön und gut, aber was ist nun die Lehre dieses hypersymbolischen Lehrstücks?

Vielleicht gibt uns ja der Abspann Aufschluss: Zu David Bowies Young Americans werden Bilder des gesammelten amerikanischen Elends des zwanzigsten Jahrhunderts präsentiert. Viele hungernde und arbeitslose Menschen, Gewalt und Tote und – rechtzeitig auf das Stichwort des Songtextes – Richard Nixon. Ist die Geschichte, die drei Stunden lang mit aller Kraft ihre Allgemeingültigkeit behauptet hat, also nur als Parabel auf das moderne Amerika gedacht? Ist das trendiger Antiamerikanismus, oder geht’s hier – ganz im Gegenteil – um das Amerika in uns allen? Vielleicht hat das am Ende alles gar nichts zu bedeuten und ist nur aus dem einfachen Grund im Film, weil es keinen Bowie-Song mit dem Titel Young Danes gibt? Fragen über Fragen. Wer Antworten erwartet, sollte Dogville meiden.

Dogville in
der Internet Movie Database

Ein Kommentar

  1. Der Film ist tatsächlich eine interessante Versuchsanordnung. Die Entwicklung der Geschichte vermag im ersten und zweiten Akt durchaus zu überzeugen, ja zu packen. Die Schauspieler sind hervorragend. Doch leider fällt im dritten Akt alles in sich zusammen und enttäuscht die Erwartungen. Nicht, dass man keine Auflösung erhält, sondern dass die Auflösung derart banal und brachial ist, ist das eigentlich Unerwartetete. Als filmisches Experiment dennoch sehenswert.

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