Zum Inhalt springen

Mit fremden Augen
Under the Skin von Jonathan Glazer

Es gibt Menschen, die Genre-Labels wie Science Fiction oder Fantasy ablehnen, weil diese die Werke und deren Rezipienten angeblich in ein Raster zwängen würden. Dieses Argument ist freilich ziemlich kurzsichtig und verkennt, dass ein Genre im Grunde nichts anderes ist als der Satz: »Dies ist ein Film wie …« Und solche Orientierungshilfen braucht nicht bloß ein Aficionado, der sich in ein bestimmtes Genre verbissen hat, sondern eigentlich jeder Kinozuschauer. Wir brauchen sie, weil Filme – wie Bücher – aufeinander aufbauen. Weil wir aus früheren Filmen wissen, was es bedeutet, wenn sich auf der Hauptstraße eines Western-Städtchens zwei Männer langsam aufeinander zubewegen oder wenn ein Mensch ohne Raumanzug ins All geschleudert wird. Wir können Filme nur verstehen, weil wir schon unzählige Filme gesehen haben.

So betrachtet ist Under the Skin ein Genre-Film reinsten Wassers. Denn ohne SF-Vorwissen wäre Jonathan Glazers dritter Kinofilm schlicht unverständlich. Erklärt wird hier nämlich nichts. Wir müssen uns aus den oft enigmatischen Szenen zusammenreimen, um was es geht. Dass die Hauptfigur, die in ihrem Bus durch Schottland kurvt, anscheinend eine außerirdische Jägerin ist, die es auf alleinstehende Männer abgesehen hat. Eine motorisierte Venusfliegenfalle, welche die liebestolle Beute in ihren Bau lockt, wo sie in einem gespenstischen Ritual vom Boden aufgesogen wird.

Scarlett Johnasson

Die Leinwandgöttin als Ausserirdische.

Man kann diesen Film nicht verstehen, ohne auf SF-Topoi zurückzugreifen, und doch wird man ihm damit nicht gerecht. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass SF irgendwie minderwertig wäre, sondern dass es in Under the Skin weitaus Wichtigeres gibt als die Handlung. Denn der eben skizzierte Plot, der im Film nur angedeutet wird, ist im Grunde das Uninteressanteste an Under the Skin. Er kommt dem Film ungefähr so nahe, wie wenn man 2001: A Space Odyssey als Film beschreiben würde, in dem zu sehen ist, wie ein außerirdisches Artefakt die menschliche Evolution antreibt. Als Zusammenfassung zwar nicht falsch, als Würdigung des Kunstwerks aber nicht einmal ansatzweise genügend.

Wie Kubricks Epos, dem Under the Skin schon in der Eröffnung Referenz erweist, ist Glazers Film in erster Linie ein audiovisuelles Ereignis – ein Erlebnis und eine Herausforderung. Hochstilisierte, artifizielle Bilder wie der Auftakt, in dem, wie sich schließlich herausstellt, das Auge der Protagonistin konstruiert wird, gesellen sich hier zu quasi-dokumentarischen, mit versteckter Kamera gedrehten Aufnahmen. Begleitet wird das von einer Tonspur, auf der der atonale Sound von Mica Levi in die überdeutlichen Originalgeräusche übergeht.

Es ist zwar längst ein Klischee, in jedem halbwegs anspruchsvollen Film eine Reflexion über das Kino selbst zu sehen, aber Under the Skin ist zuerst und vor allem ein Film über Wahrnehmung, über den Blick. Deshalb auch das Auge zu Beginn. Das unmenschliche Auge eines außerirdischen Wesens, das den Körper von Scarlett Johansson nur als Tarnanzug und besonders effektives Lockmittel benutzt. Eines Wesens, das ohne die geringste Regung zusieht, wie ein Elternpaar ertrinkt, und dann deren schreiendes Baby allein am Strand zurücklässt. Weil es nicht ins Beuteschema passt und damit uninteressant ist. Eine Szene, die einem gerade wegen ihrer unsentimentalen Nüchternheit schier das Herz zerreißt.

Kino kann uns im besten Fall das Sehen (neu) lehren. Etwa wenn uns Glazer den nackten Körper Johanssons präsentiert und diese Leinwandgöttin für einmal bar jeder sinnlichen Ausstrahlung erscheint. Oder wenn diese später auf ein neues Opfer trifft, einen Mann mit tragisch entstelltem Gesicht, und unerwartet dessen Schönheit entdeckt. Auch das mag ein Klischee sein, aber selten wurde es so effektiv in Szene gesetzt.

Die Begegnung mit dem traurigen Gnom – dessen Darsteller tatsächlich an einer Erbkrankheit leidet, die zur Geschwürbildung führt – wirft die bis dahin so berechnend agierende Jägerin aus der Bahn. Auf einmal wird sie verletzlich, verliert ihre kühle Überlegenheit und geht schließlich an dieser Welt, die ihr bis zum Schluss fremd bleibt, zugrunde.

Im gleichnamigen Roman von Michel Faber, der Glazers Film als Vorlage diente, wird im Gegensatz zur Leinwandversion schließlich aufgeklärt, welches Ziel die Jagd hat. Isserley, wie die Protagonistin im Buch heißt, fängt Männer ein, die dann gemästet, geschlachtet und auf ihrem Heimatplaneten als eine Art intergalaktische Foie gras verkauft werden. Eine böse, aber äußerst lesenswerte Parabel auf den menschlichen Umgang mit Zuchttieren. Der Film verzichtet auf diese Erklärungen und setzt auch sonst die Akzente anders. Was Film und Roman aber verbindet, ist die Art und Weise, wie sie SF-Elemente mit einer für das Genre ganz und gar untypischen Erzählweise verbinden. Sie führen vor, wie wirkungsvoll SF im besten Fall sein kann, aber sie tun das außerhalb des üblichen Genrekontextes.

Das Ergebnis ist alles andere als schön. Under the Skin ist kein angenehmer Film, sondern ein nachhaltig verstörendes Meisterwerk.

Erschienen im Science Fiction Jahr 2015.

Under the Skin in der Internet Movie Database.

Sei der Erste der einen Kommentar abgibt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

3 × 2 =

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.