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Wir waren im Kino und haben uns schiefgelacht
Le petit Nicolas von Laurent Tirard

Sempés Nicolas

Der kleine Nick im Original

Nick und seine Freunde

Der kleine Nick und seine Bande im Film

Nicks Klasse

Alle Blicke sind auf Chlodwig gerichtet

Ich mag den kleinen Nick, nämlich der ist ganz prima und erlebt immer so lustige Geschichten. Mit seinen Freunden macht er ganz toll Quatsch, manchmal streiten sie sich zwar und geben sich gegenseitig eins auf die Nase, aber immer ist das ein Riesenspass. Seine Eltern und seine Lehrerin haben daran zwar nicht immer Freude und schimpfen dann mit ihm. Alle anderen aber finden seine Geschichten grosse klasse. Und jetzt gibt es einen Film mit dem kleinen Nick, und das ist auch ganz prima, denn ins Kino gehe ich sehr gerne. Besonders wenn es da Cowboys oder Astronauten gibt, die sich gegenseitig tot schiessen …

Verfilmungen bekannter literarischer Werke haben es seit jeher schwer. Die Versuchung ist gross, den jeweiligen Film nicht als etwas Eigenständiges zu betrachten, sondern ihn mit seiner Vorlage zu vergleichen. Und bei diesem Vergleich kann der Film eigentlich nur als defizitär erscheinen, denn das – ohnehin zweifelhafte – Ideal der werkgetreuen Umsetzung ist in jedem Fall nicht zu erreichen. Was für Literaturverfilmungen generell gilt, verschärft sich bei Kinderbüchern noch zusätzlich, denn wir alle tragen teure Erinnerungen an die Lieblingsbücher unserer Kindheit mit uns herum, die sich im Kino kaum in dieser Art und Weise reproduzieren lassen.

Im Falle von Le petit Nicolas kommt noch hinzu, dass Jean-Jacques Sempés kongeniale Illustrationen von René Goscinnys Texten weit mehr sind als blosse Begleitbilder der Erzählungen. Die scheinbar so beiläufig hingekritzelten, in Wirklichkeit unglaublich gekonnten Männlein tragen massgeblich zur zeitlosen Wirkung des kleinen Nicks bei. Für den Film stellt sich damit freilich ein Problem: Wir alle wissen ganz genau, wie Nick und seine Freunde, der dicke Otto, der etwas langsame Chlodwig und Adalbert, dieser dreckige Ranschmeisser, aussehen.

Sempés Zeichnungen wird in der äusserst liebevoll gestalteten Titelsequenz des Films dann auch gebührend Referenz erwiesen (auch Goscinnys Asterix wird später an prominenter Stelle gehuldigt). Überhaupt zeugt der Film insgesamt vom grossen Respekt, den Regisseur Laurend Tirard und sein Koautor Grégoire Vigneron Goscinnys Erzählungen entgegenbringen. In der Vergangenheit war das leider nicht immer so: Realverfilmungen von Asterix und Lucky Luke – den beiden bekanntesten Comicserien, für die der 1977 viel zu früh verstorbene Goscinny die Texte geliefert hatte – wurden in unsäglich dümmlichen Filmen regelrecht massakriert.
Nicht so Le petit Nicolas; Tirard hat sehr genau erkannt, was den Reiz der Erzählungen im Kern ausmacht: Die Typisierung. Im Grunde erzählen Goscinny und Sempé immer wieder die gleiche Geschichte mit einem festen Personal, dessen Charakterzüge der Leser bald kennt und das sich nicht entwickelt. Und auch die 50er-Jahre-Stimmung mit ihrer Mischung aus naiv-kindlicher Idylle und konservativem Mief ist letztlich eine zeitlose Fiktion. So war das Leben in Frankreich nie, weder heute, noch vor einem halben Jahrhundert.

Um diese zeitlos-zeitgebundene Stimmung einzufangen, ist nicht nur viel Aufwand bei der Ausstattung nötig, sie stellt vor allem grosse Anforderungen an die Schauspieler. Denn indem uns der Film reale Menschen präsentiert, ist er immer schon psychologisch und sträubt sich gegen zu starke Typisierung; ein Umstand, an dem viele Comicverfilmungen letztlich scheitern. Doch gerade hier kann Tirards Film die grössten Pluspunkte verbuchen. Sowohl die Kinder, die Sempés Zeichnungen geradezu beängstigend ähnlich sehen, als auch die Erwachsenen-Rollen sind unglaublich treffsicher besetzt. Selbst die Aufwertung der Mutter-Figur (Valérie Lemercier), die bei Goscinny kaum mehr tut als putzen, kochen und mit ihrem Mann schimpfen, ist gelungen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass der Film die abgeschlossenen Erzählungen, die meist nur acht, neun Seiten lang sind, mit eigenem Material ergänzen muss, um einen erzählerischen Bogen zu spannen, der 90 Minuten lang zieht. Im Zentrum des Films steht darum Nicks Angst, dass er ein kleines Brüderchen kriegen könnte, welches ihm seinen Platz in der Familie streitig macht. Um dies zu verhindern, heckt er mit seinen Freunden alle möglichen Pläne aus: Zuerst versucht er, sich einzuschmeicheln, später, als das nicht fruchtet, beschliesst man, das Kind entführen zu lassen. In diese übergreifende Geschichte, die es bei Goscinny und Sempé so nicht gibt, sind durchaus gekonnt zahlreiche klassische Kleine-Nick-Episoden eingewoben: etwa der Arztbesuch, das Abendessen mit dem Chef von Nicks Vater oder der Schulbesuch des Erziehungsministers.

Es spricht für Tirard, dass für alle Zuschauer, die den kleinen Nick nur durch Hans-Georg Lenzens formidable Übersetzung kennen, die grösste Irritation des Films wohl in den ungewohnten Namen des französischen Originals besteht: Otto heisst da plötzlich Alceste und Chlodwig Clotaire. Da ist man für einmal fast versucht, sich die synchronisierte Fassung anzuschauen. – Alles in allem also ein prima Film, auch wenn keine Cowboys vorkommen und fast niemand tot geschossen wird.

Le petit Nicolas in der Internet Movie Database

Erschienen in der Basler Zeitung vom 2. September 2010.

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